,,Wetschernaja Moskwa“ (Moskauer Abendblatt, Auflage ca. 700 000,
d.Übers.)
13. April 1998

Verzeichnis der Erschossenen: Donskoi-Friedhof

Die blutige Internationale

26 Bürger der DDR sind "aus Versehen“ in Moskau umgekommen

von

Alexander Borschtschagowskij


...Welche Kraft des Mitleids muß ein Mensch besitzen, damit die Opfer vergangener Zeiten ihn mit dem gleichen Zorn entflammen wie auch das unschuldige Blut, das vor seinen Augen und seiner Erinnerung verbrecherisch vergossen wurde. Die Erinnerung erlahmt, der Mensch ist sterblich, auf ihre Weise sterblich sind auch die Generationen, nicht ewig sind auch die in das historische Nichts geworfene vernichteten Völker.

Unser Gedächtnis und die Notwendigkeit der Reue, im Sturmgeläut haben sie den hervorragenden russischen Maler zu seinem tragischen Gemälde angeregt: eine riesige Schädelpyramide. Für uns ist dies schon längst eine Metapher geworden, eine Gestalt. An ihr ist es, unser Gedächtnis und unser Gewissen wachzurütteln.

Was sollen wir tun, wenn sich herausstellt, daß die Schädel der Unschuldigen die ganze Erde bedecken, von der Ostsee bis zum Irtysch und der Lena, bis Sachalin und Tschukotka, und dies ist nicht eine Metapher, kein kühner Gedanke, sondern das eiserne Geheimnis des Spatens, der auf den Schädel stößt, des Baggereimers, der mit der Erde Skelette zutage fördert, das ist das steile, vom Hochwasser abgerissene Stück Ufer des sibirischen Flusses bei Tomsk. Was tun, wenn Dokumente bestätigen, daß im Großen Grab, dessen Maßstab alles Vergleichbare übersteigt, im Grab Nr. 1, die flüchtige und doch so bleischwere Asche Tausender und Abertausender Menschen ruht, die geboren wurden, um zu leben, aber in Moskau erschossen wurden. Und keine Vorstellung vermag uns zu sagen, wie viel Menschen man vernichten mußte in den Ofen des Krematoriums, damit die verdichtete, verfestigte Asche irgendwie der Erde ähnelte.

Für den aufmerksamen Leser bilden die ,,Verzeichnisse der Erschossenen“ eine
tragische Chronik des Landes, eine schwarze, im Blut der Chronik unserer
Vergangenheit, ein nicht endender geschichtlicher Trakt, Schritt haltend mit den
Ereignissen des Lebens selbst.

Die heute veröffentlichte Liste von Nachkriegsopfern des KGB ist einzigartig durch seine unerwartete Mononationalität. Wir wissen gut, daß man in den Fleischwolf der Ljubjanka die todgeweihten Menschen unterschiedlicher Nationalitäten geschickt hat, Bürger der UdSSR und jene Don Quichotes der Revolution, die von überall her nach Sowjetrußland, in die UdSSR, strömten, zur Leuchte des Kommunismus und des sozialen Fortschritts. Söhne und Töchter der gewaltigen unterdrückten Welt, die an das ,,große Experiment“ glaubten, sie sind Jahr für Jahr umgekommen unter gnadenlosen Walze der stalinschen Diktatur. Sie brauchten nicht Bürger der UdSSR zu sein, um eine Kugel ins Genick zu bekommen, das Privileg des Todes in den Kellern der Ljubjanka. Angehörige der Komintern, mit denen Stalin spielte wie die Katze mit der Maus, Herausgeber, Wissenschaftler und Journalisten, sie alle sind umgekommen: Bereits die Tatsache der Einreise nach Rußland aus einem fremden Land erwies sich schon als hinreichend für ihre physische Vernichtung.

Vor uns liegt eine einmalige Liste von 26 Deutschen, die gemäß dem Urteil des Militärtribunals in Moskau erschossen wurden, 5 -6 Jahre nach dem Ende des Weltkrieges. Suchen Sie bitte keine Logik oder irgendeine kriminelle Gemeinsamkeit oder Geschlossenheit in den Schicksalen, von jungen Menschen, die gerade 10 bis 12 Jahre alt waren, als der Krieg 1941 begann, bis zum 45-jährigen Erwin Köhler, Bürgermeister der Stadt Potsdam und seiner Ehefrau Charlotte Köhler, die durch nichts schuldig geworden sind, weder gegenüber einem deutschen Gott noch vor dem eigenen Volk oder gegenüber den Bewohnern Rußlands. Irgendwer hat sich da vertan, beeilte sich mit der Verhaftung, dem Scharfgericht und wie sich bald herausstellte, daß es irgendwie nicht sein darf und peinlich wäre, sich von einem Menschen zu trennen, auf den die Spezialisten ihres Faches schon so viel Arbeit verwendet hatten, der auch der Welt und den Menschen nichts Gutes berichten würde. Besser, sich von ihm zu trennen, in Moskau sich von ihm zu trennen, für immer -

Die Deutschen, Bürger eines souveränen Staates, werden aus irgendeinem unerfindlichen Grund von einem Militärtribunal verurteilt, nicht in der DDR, nicht in der BRD, sondern in der Militäreinheit Nr. 48240. Man verurteilt Menschen, die nichts miteinander verbindet, außer ihre Nationalität, man verbindet sie nicht durch die Ermittlungen, nicht durch die Phantasie der Untersuchungsbeamten, sondern allein und ausschließlich durch das Urteil. dem Urteil zufolge beschuldigte man sie stur und einhellig eine mystischen ,,Spionage“, ohne Beweise und Beweisgegenstände, sozusagen gemäß einer staatlichen ,,Eingebung“, angeblich der Teilnahme an einer gewissen konterrevolutionären Organisation, deren Ziele und Existenz aufzuklären die Zeit nicht zuließ. Aber warum auch aufklären? Es gibt doch den so allgemeinen Begriff der ,,Spionage“, etwas ohne Geruch und Farbe, es gibt den Menschen, der man weiß nicht warum in eine liberale Partei eintritt oder in die CDU oder sogar in die sozialdemokratische SED. Bedarf es da noch gewichtigerer Argumente oder ,,Indizien“?! Es gibt keine ,,konterrevolutionäre“ Organisation, die sich nicht zusammenleimen ließe aus der getrennten Existenz einzelner Menschen. Diese kleine Mühe sollte nicht die heilige Sache der Säuberung behindern. Nehmen wir einfach an, daß der Krieg noch im Gange ist, aber im Krieg, wer fragt da nach Verhören, oder etwa nach den verdammten Indizien.

Heute sind all diese Existenzen mit einer Büroklammer zusammengeheftet - ein Dutzend Seiten einer Todesliste mit den Nummern 2252 bis 2278. Hinter der letzten Ziffer verbirgt sich Charlotte Köhler, die Ehefrau des Bürgermeisters, die nicht einmal 50 Jahre alt wurde, Ehefrau eines geachteten Beamten, Hausfrau. Aber sie war Mitglied der CDU, der Christlich Demokratischen Union. Das, so scheint es, war auch schon hinreichend, um sie von unserer Erde zu tilgen. Obwohl irgendein Pedant, ein Gerichtsschreiber, der offenbar vergessen hatte, daß der Krieg noch nicht zu Ende war, unvorsichtigerweise aufschrieb: ,,...ihre Verbrechen zu dokumentieren ist nicht gelungen“. Wozu sich auch noch darum Sorgen machen. Und bezüglich des Jurastudenten hatte man sich dahingehend verplappert, daß ,,eine Spionagetätigkeit nicht vollständig nachgewiesen wurde“, aber in jedem Falle war sie ... zweifelsfrei.

So steht es auch mit den anderen, den Wachtmeistern der Grenztruppenteils, mit den Studenten, den jungen Liberalen, mit Menschen, die in Deutschland lebten und sich mit irgendeinem Ausländer getroffen haben, als allen noch so deutlich der Krieg in Erinnerung war. Keine Fakten, keine Zeugen, keine Sachbeweise, aber 26 Menschen, die den Krieg überlebt haben, wurden aus irgendeinem Grunde nach Moskau überstellt und getötet. Danach wurden sie in einem Moskauer Krematorium verbrannt auf dem Donskoi-Friedhof.

Wie kann man nur derart unsere Stadt, unsere Rechtsprechung, unser Land entehren, indem man es in ein Land der Vernichtung verwandelt, eine große Stadt in einen Schlachthof; in die Hauptstadt einer stalinschen blutigen Internationale.

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Kalter Krieg und danach

Langzitat aus der Wetschernaja Moskwa, die sich verdient gemacht hat.